Delegierte

Delegiertenversammlung: Mehr Raum für politische Diskussion

17.06.2024 | Mehr gemeinsames Auseinandersetzen mit wichtigen Fragen der Zeit, mehr politische Debatten, mehr Konkretes zum Umgang mit der aktuellen Stimmung in der Gesellschaft - das hatten sich unsere Delegierten gewünscht. Zur dritten Delegiertenversammlung unmittelbar nach dem Wahlsonntag hatten wir deshalb gleich zwei Gäste eingeladen, um miteinander über eine sozial gerechte Industriepolitik zu debattieren.

Maurice Höfgen plädiert für eine progressive Wirtschaftspolitik und einem Aus für die Zukunftsbremse Schuldenbremse. Fotos: IG Metall Zwickau

Tom Bauermann erläuterte eine neue Studie des IMK, wonach es jährlich 60 Milliarden Euro braucht, um die Infrastruktur zukunftsfähig zu machen.

Delegiertenversammlung im Zwickauer August Horch Museum.

Der gemeinsame Blick auf die Wahlergebnisse.

Das Ergebnis der Kommunal- und Europawahlen mag erwartbar gewesen sein, erschüttert hat es dennoch viele unserer betrieblichen Kolleginnen und Kollegen. Das zeigte die Diskussion bei der dritten Delegiertenversammlung
am 13. Juni im Zwickauer August Horch-Museum.  "Aber gerade jetzt kommt es auf uns alle an, wir müssen uns weiter einmischen und kämpfen! Lasst uns nicht mitziehen bei diesem ›Jeder gegen Jeden‹, sondern weiter ein positives Zukunftsbild entwerfen«, so der Erste Bevollmächtigte Thomas Knabel.

Impulsvorträge zur Schuldenbremse

Mit zwei Impulsvorträgen stiegen wir in die Diskussion ein: Einen wissenschaftlichen Blick lieferte Tom Bauermann vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, das in einer Studie berechnet hat, dass es 600 Milliarden
Euro in den nächsten zehn Jahren braucht, um allein die öffentliche Infrastruktur zukunftsfähig zu halten. 

Der deutsche Staat muss und kann über die kommenden zehn Jahre jährlich etwa 60 Milliarden Euro gezielt zusätzlich investieren, um Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig zu machen mit Blick auf Klimaschutz und Klimaanpassung, Energie- und Verkehrswende, demografischen Wandel und Digitalisierung. Mit den insgesamt 600 Milliarden Euro könnten bis Mitte der 2030er Jahre nicht nur der Investitionsstau in den Kommunen aufgelöst werden, sondern auch dringend nötige Fortschritte in der Qualität der Bildungsinfrastruktur, bei Energie- und Verkehrsnetzen, Öffentlichem Verkehr sowie bei der Dekarbonisierung des Landes erzielt werden. 

"Warum eine aktive Industriepolitik auch vor diesem Hintergrund wichtig ist, warum der Staat sich einmischen muss? Weil die Wirtschaft im großen Stil von selbst nicht auf diese Idee kommen wird, es braucht Anreize", so Tom Bauermann zu den mehr als 80 Delegierten. Vor allem mit Blick auf eine sozial gerechte Industriepolitik brauche es eine öffentliche Hand, die Aufträge an soziale Bedingungen knüpft. 

Dass insbesondere die Schuldenregelungen aus der Zeit gefallen sind, sagen demnach übrigens nicht nur wir als Gewerkschaft - dieses Fazit sei zunehmend Konsens in der Wirtschaftswissenschaft und zum Teil auch der Wirtschaftspolitik. Jüngste Forderungen seitens der Industrie nach einem Sondervermögen in dieser Woche weisen in die selbe Richtung - auch wenn Bundesfinanzminister Lindner diesem Vorschlag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in Rekordgeschwindigkeit eine Absage erteilte. 

Die Studie im Detail könnt ihr euch auf der Webseite des IMK anschauen.

Schluss mit der Zukunftsbremse 

Maurice Höfgen, als "VWL-Influencer" bekannt, machte deutlich, welche Mythen sich um die Schuldenbremse ranken und warum die Sparpolitik der Ampelkoalition gerade der nächsten Generation schadet. Auf eingängige und zugleich fundierte Art machte der Ökonom und Betriebswirt für die Delegierten anfassbar, wie wenig wir Schulden im Privaten mit den Schulden eines Staates in einen Topf werfen dürfen.

Fakt ist laut Maurice Höfgen, dass zukünftige Generationen finanziell und tatsächlich belastet werden, wenn wir heute weiterhin nichts investieren. Denn heute schon kaputte Straßen und marode Schulen seien in 20, 30 Jahren noch kaputter und noch maroder. "Die Nettoinvestitionen liegen seit 1996 bei Null! Seitdem wurde immer nur so viel investiert, wie die öffentliche Infrastruktur an Wert verloren hat – das ist so, als ob in die deutsche Infrastruktur in den letzten 28 Jahren nichts investiert worden wäre", machte der YouTuber, Podcaster und Kolumnist klar. 

Auch mit der Schuldenuhr als drohendes Damoklesschwert über uns machte er kurzen Prozess: "Die Schulden des einen ist das Vermögen eines anderen. Diese Schuldenuhr in Berlin zeigt vor allem eines: Wir verteilen schlecht! Denn die Zahl auf dieser Schuldenuhr liegt als reales Geld auf den Bankkonten der Privatwirtschaft", so Maurice Höfgen.

Und so ging es Schlag auf Schlag weiter - Zinsen, Inflation, Puffer für schwere Zeiten - alles Mythen rund um das Thema Schuldenbremse, die Maurice Höfgen auf verständliche Weise entlarvte. Und: "Selbst Peer Steinbrück, der die Schuldenbremse vor 15 Jahren eingeführt hat, meint inzwischen, dass dieses Instrument nicht mehr zeitgemäß ist." Schulden seien nicht per se etwas Schlechtes, wenn es die Umstände erfordern und Geld nicht so knapp ist, wie man uns gerne einreden möchte. "Geld ist nicht knapp, wir verteilen nur falsch."

Genauer kann man sich mit den Thesen von Maurice Höfgen über eine Vielzahl von YouTube Videos, Podcasts oder Büchern des progressiven Denkers auseinandersetzen: www.mauricehoefgen.com

Mit so viel Input in den Köpfen startete eine angeregte Diskussion, wie dieser Perspektivenwechsel in die Betriebe getragen werden kann, welchen Druck wir als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aufbauen können, damit sich etwas ändert. "Lasst uns weiter mutig bleiben. Wir kennen viele der aktuellen Debatten doch schon aus der Zeit der Agenda-Politik, die immer auf dem Rücken derer abliefen, die sich nicht wehren können", so Thomas Knabel zum Abschluss. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, ist jetzt Kampfgeist gefragt - nicht nur für die anstehende Tarifrunde, sondern vor allem auch für die anstehenden harten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

 

Von: cdr

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