GEWERKSCHAFTSGESCHICHTE

1973: Das Jahr der spontanen Streiks

20.08.2023 | Gleiche Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und Respekt: Das forderten Tausende migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter im Sommer 1973 in der Bundesrepublik. Mit spontanen Arbeitsniederlegungen machten sie auf die massiven Ungleichbehandlungen aufmerksam. Wir blicken zurück auf ein Stück (west)deutsche Gewerkschaftsgeschichte, das auch nach 50 Jahren seine Relevanz nicht verloren hat. Denn Mitbestimmung und Solidarität ohne Ansehen der Herkunft geht uns alle an - heute mehr denn je.

Momentaufnahme eines spontanen Streiks im Jahr 1973 in Lippstadt. Foto: picture alliance / Roland Scheidemann

„Mehr Geld, mehr Geld“ rufen die Streikenden. Im Sommer 1973 ist die Stimmung aufgeheizt. In vielen Betrieben stehen die Bänder still. Vor den Werkstoren versammeln sich vor allem Beschäftigte, die als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus den südeuropäischen Ländern angeworben wurden: Sie tragen Plakate oder Megaphone, die Hände kämpferisch in die Luft gestreckt oder Hand in Hand über das Betriebsgelände tanzend. Wut und Frust vieler migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter entladen sich fast zeitgleich in den Betrieben Hella, Pierburg und Ford.

Streikjahr 1973

Das Besondere an den Arbeitskämpfen von 1973: Es handelt sich um spontane Arbeitsniederlegungen, auch als wilde Streiks bekannt, die vor allem von migrantischen Beschäftigten geführt wurden. Millionen Kolleginnen und Kollegen aus den südlichen Ländern Europas waren in den Jahren zuvor im Zuge der Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik gekommen. Und machten mit ihrer Arbeitskraft das deutsche Wirtschaftswunder möglich.

Die gebürtige Griechin Irina Vavitsa war eine von ihnen: „Wir kamen mit einem Koffer voller Hoffnung, mussten dann aber feststellen, dass man uns hier ungerecht behandelt.“

Im Sommer 1973 ist für viele das Maß voll: Ungerechte Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen deutschen und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern sowie schlechte Arbeitsbedingungen – das wollen die Kolleginnen und Kollegen nicht mehr hinnehmen.

In ganz Deutschland kommt es zu spontanen Arbeitsniederlegungen von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Einige enden erfolgreich, andere, wie der in den Medien als „Türkenstreik“ verunglimpfte und bekannt gewordene Ausstand bei Ford in Köln, werden gewaltsam zerschlagen.

Ford-Streik

Dabei beginnt der Streik bei Ford vielversprechend: Ende August zieht ein Protestmarsch über das Werksgelände. Tausende Beschäftigte bringen ihre Empörung lautstark zum Ausdruck. Anlass ist die Entlassung von 300 türkischen Arbeitern, die verspätet aus dem Urlaub zurückgekehrt sind. Dabei geht es nicht nur um die Solidarität mit den Entlassenen: Die schlechtere Bezahlung im Vergleich zu den deutschen Kollegen, die Beschleunigung der Bandgeschwindigkeit und die teilweise rassistische Behandlung durch die Vorgesetzten haben bereits im Vorfeld für Unmut gesorgt.

Sieben Tage dauert der Streik. Obwohl die Forderung „1 DM mehr für alle“ auch die deutschen Kolleginnen und Kollegen einschließt, solidarisieren sich die Deutschen Arbeiter nicht mit den Streikenden. Im Gegenteil: Die rassistische Hetze vieler Medien, die den Streik teils als „Türkenterror“ bezeichnen, verfängt. Leitende Angestellte, Betriebsräte und Vorgesetzte beenden den Streik gemeinsam mit der Polizei gewaltsam. Es kommt zu Jagdszenen auf die Protestierenden. Mehrere von ihnen werden durch die Knüppel der Streikgegner verletzt. (Dokumentarfilm „Diese spontane Arbeitsniederlegung war nicht geplant“)

Die Folgen für die Streikenden sind fatal: Es kommt zu Festnahmen und Abschiebungen. Etwa 100 von ihnen werden fristlos entlassen, 600 weitere Arbeiterinnen und Arbeiter kündigen unter dem Druck der Geschäftsführung.

Die Macht der Solidarität

Anders verlaufen die spontanen Arbeitsniederlegungen bei Pierburg in Neuss und Hella in Lippstadt. Den gewaltsamen Übergriffen der Polizei, den Spaltungsversuchen der Geschäftsführung und der rassistischen Hetze einiger Medien steht in beiden Fällen ein breites solidarisches Netzwerk gegenüber. „Mit so viel Solidarität haben wir nicht gerechnet. Von der Zivilgesellschaft, aber auch von unseren deutschen Kollegen. Sie waren auf unserer Seite, als sie von der unterschiedlichen Bezahlung erfahren haben“, erinnert sich Irina.

In Hella in Lippstadt, wo Irina im Sommer 1973 arbeitet, und bei Pierburg in Neuss stecken vor allem migrantische Frauen in den sogenannten Leichtlohngruppen. Trotz gleicher Arbeit haben sie oft keine Chance auf bessere Bezahlung.

Als Irina und ihre Kolleginnen und Kollegen aus Spanien, Griechenland, Ex-Jugoslawien und Italien dann auch noch mitbekommen, dass die deutschen Facharbeiter eine freiwillige Zulage erhalten, ist das eine Demütigung zu viel. „Bei Hella war das Problem, dass niemand da war, der uns erklärt hat, was ein spontaner Streik ist, was wir dürfen und was nicht. In dem Moment, in dem der Unmut größer wurde, war uns das auch egal. Wegen dieser Ungerechtigkeit mussten wir einfach auf die Barrikaden gehen“, erzählt Irina.

Vier Tage lang legen Tausende migrantische aber auch deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter spontan ihre Arbeit nieder – mit Erfolg. Irina und ihre Kollegen erkämpfen unter anderem 40 Pfennig mehr Lohn pro Stunde für die unteren und 30 Pfennig mehr für die höheren Lohngruppen.

Einen Monat nach Irina und ihren Kolleginnen und Kollegen treten auch bei Pierburg in Neuss vorwiegend ausländische Frauen in den Arbeitskampf. Gestärkt durch einen aktiven Betriebsrat, der sich mit den migrantischen Frauen solidarisiert, kämpfen sie erfolgreich gegen die diskriminierende Eingruppierung und Entlohnung.

50 Jahre später

Die Ereignisse aus dem Jahr 1973 waren wegweisend für die migrationspolitische Arbeit der IG Metall. 50 Jahre später sind Menschen mit Migrationsgeschichte ein selbstverständlicher Teil der IG Metall: 24 Prozent der IG Metall-Mitglieder haben einen Migrationshintergrund. In betrieblichen Funktionen sind migrantische Kolleginnen und Kollegen sogar überrepräsentiert. Doch auch wenn die IG Metall als Einwanderungsgewerkschaft viel erreicht hat, gibt es weiterhin große Herausforderungen. So gilt es auch die „neuen“ Einwanderungsgruppen der Geflüchteten oder Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa über ihre Rechte zu informieren. Mit Ansprachematerialien in der jeweiligen Landessprache gelingt es, die ausländischen Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen und für die IG Metall zu gewinnen.

Von: cdr

Unsere Social Media Kanäle