09.04.2024 | 75 Jahre Tarifverträge: Am 9. April 1949 wurde durch den gemeinsamen Wirtschaftsrat der britischen und amerikanischen Besatzungszone das Tarifvertragsgesetz (TVG) verabschiedet. Aktuelle Statistiken belegen: Auch heute gilt, besser mit Tarifvertrag!
Nachdem im Nationalsozialismus freie Tarifverhandlungen verboten waren und durch staatliche Verordnungen ersetzt wurden, wurde mit dem TVG der gesetzliche Rahmen für die Wiederherstellung autonomer Tarifverhandlungen geschaffen. Mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 erhielt nur wenige Wochen nach dem TVG die Tarifautonomie – abgeleitet aus der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 GG – sogar Verfassungsrang. Damit konnte eine wirtschaftsdemokratische Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen eingeleitet werden, die zugleich einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Neuordnung Deutschlands insgesamt leisten sollte. Darauf weist Prof. Dr. Thorsten Schulten hin, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Das ursprünglich gerade einmal 11 und mittlerweile 15 Artikel umfassende TVG ist in seinen Kernelementen bis heute unverändert geblieben. Im Wesentlichen geht es um die Bestimmung der Tarifvertragsparteien, die Festschreibung der Unabdingbarkeit des Tarifvertrages sowie die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung als wesentliches Instrument zur Absicherung des Tarifvertragssystems. Mit dem TVG wurde ein effizienter Gestaltungsrahmen zur Umsetzung der Tarifautonomie geschaffen, der die Entwicklung eines umfassenden Tarifvertragssystems ermöglichte, so Thorsten Schulten. Über mehrere Jahrzehnte hinweg waren demnach in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 80 und 90 Prozent aller Beschäftigten an einen Tarifvertrag gebunden.
Seit Mitte der 1990er Jahre befindet sich das deutsche Tarifvertragssystem in einem schleichenden Erosionsprozess. Heute arbeitet nur noch etwa die Hälfte aller Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifvertrag. Das diese Entwicklung keineswegs zwangläufig ist, zeigt der Blick ins europäische Ausland, wo in mehreren Staaten nach wie vor eine Tarifbindung von 80 und mehr Prozent existiert.
Mit der 2022 verabschiedeten EU-Mindestlohnrichtlinie, die eigentlich auch Tarifvertragsstärkungsrichtlinie heißen könnte, liegt mittlerweile ein europäischer Rechtsrahmen vor, demzufolge alle EU-Staaten mit einer Tarifbindung unterhalb von 80 Prozent einen konkreten Aktionsplan zur Stärkung des Tarifvertragssystems vorlegen müssen. 75 Jahre Tarifvertragsgesetz könnten hierfür guten Anlass bieten, auch in Deutschland konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um die Tarifbindung wieder zu erhöhen und damit nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie zu leisten, meint Schulten.
Auch die IG Metall fordert zum 75. Geburtstag des Tarifvertragsgesetzes Arbeitgeber und Politik dazu auf, dieses Recht der Gewerkschaften mehr zu respektieren und zu fördern. Nadine Boguslawski, für Tarifpolitik verantwortliches Vorstandsmitglied der IG Metall, sagt dazu: „Seit 75 Jahren haben Beschäftigte das Recht auf bessere Arbeitsbedingungen mit Tarifverträgen. Tarifverträge garantieren ein Stück Demokratie in der Wirtschaft. Davon profitieren nicht nur Beschäftigte und Unternehmen, sondern die gesamte Gesellschaft. Tarifverträge geben Sicherheit in Zeiten des Wandels. Gerade in Umbruchzeiten wie jetzt.“
In der Metall- und Elektroindustrie haben laut IG Metall 56 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag. Damit profitieren sie von besseren Löhnen bei einer geringeren Arbeitszeit. In nicht-tarifgebundenen Betrieben arbeiten Vollzeitbeschäftigte 12,4 Stunden pro Monat länger als in tarifgebundenen. Mit Tarifvertrag verdienen Beschäftigte im bundesweiten Durchschnitt über 9 Euro bzw. 29 Prozent mehr.
Tarifverträge sorgen zudem für weniger Diskriminierung und mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern: Ohne Tarifbindung liegt der Gender Pay Gap bei 18 Prozent, mit Tarifvertrag ist der Verdienstnachteil von Frauen gegenüber Männern deutlich geringer (9,5 %). Das ergibt eine IG Metall-Analyse der Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamts.