INTERVIEW MIT STEFAN FISCHER UND MARCEL BATHIS

Rein in die Betriebe: „Unser Leben gestalten wir“

15.11.2021 | Bundesweit hat etwa jeder zehnte Betrieb einen Betriebsrat. Dabei könnte es in jedem Betrieb mit 5 Mitarbeitern ein solches Gremium geben. So sieht es zumindest das Betriebsverfassungsgesetz vor. Warum nutzen also nicht deutlich mehr Beschäftigte ihr Recht auf Mitbestimmung am Arbeitsplatz?

Stefan Fischer und Marcel Bathis kümmern sich als Gewerkschaftssekretäre der IG Metall Zwickau um die Erschließung neuer Betriebe. Foto: IG Metall Zwickau

Darüber sprachen wir mit Stefan Fischer und Marcel Bathis.

Ihr seid die Erschließungssekretäre der IG Metall Zwickau. Was genau macht ihr?

Marcel: Wir sind als Gewerkschaftssekretäre die Ansprechpartner für Betriebe, die bislang keinen Betriebsrat und damit keine Arbeitnehmervertretung haben, in denen es aber Kolleginnen und Kollegen gibt, die das gern ändern möchten. Im Grunde genommen sind wir so etwas wie „Geburtshelfer“ auf dem Weg zu betrieblicher Mitbestimmung.

Stefan: Wir begleiten den ganzen Prozess von der ersten Idee über die tatsächliche Wahl eines solchen Gremiums bis hin zur Tarifbindung. Es geht darum, dass die Kolleginnen und Kollegen aktiv werden und ihre Arbeitsbedingungen selbst verändern, das aber nicht allein tun müssen. Es gibt eine ganze Reihe erprobter Methoden und Instrumente, die wir nutzen und die schon in vielen Betrieben erfolgreich eingesetzt wurden. Strukturiert und gemeinsam – so lässt sich unser Vorgehen gut zusammenfassen.

Auch in der letzten Tarifrunde wurden wieder Stimmen laut, die IG Metall ist nur für die „Großen“ da. Ist da etwas dran?

Marcel: Na ganz im Gegenteil! Das ist ja unsere tägliche Arbeit und Beispiele wie die Kontraktlogistiker Rhenus und BLG, Zulieferer wie Grammer, Linamar Powertrain oder Betriebe wie Kobra und WTE Präzisionstechnik zeigen, dass sich Mitbestimmung lohnt – für große und kleine Betriebe.

Stefan: In diesen Betrieben war Mitbestimmung bis dato ein Fremdwort. Dann haben sich einige Aktive auf den Weg gemacht, als ersten Schritt einen Betriebsrat gegründet. Danach sind wir bei vielen auch gleich in Richtung Haustarif durchgestartet, zum Teil innerhalb weniger Monate. Das zeigt doch: Auch hier in unserer Region geht etwas!

Warum ist ein Betriebsrat so wichtig?

Stefan: Beschäftigte in einem Betrieb ohne Betriebsrat verzichten auf Rechte, die ihnen per Gesetz zustehen. Wie schon erwähnt ermöglicht das Betriebsverfassungsgesetz Betriebsräte in Betrieben mit 5 Mitarbeitenden. Ohne dieses Gremium haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinerlei Mitbestimmungsrechte!

Marcel: Nehmen wir beispielsweise Sonderschichten am Samstag: Ohne Betriebsrat ordnet das der Chef einfach an. Da machst du als Arbeitnehmer in der Regel einfach murrend mit. Gibt es hingegen einen Betriebsrat, muss dieser zustimmen beziehungsweise verhandelt mit dem Arbeitgeber über die Bedingungen, etwa eine Gegenleistung.

Stefan: Ohne Betriebsrat keine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, kein Mitspracherecht bei der Schichtplanung und erst recht keinen Sozialplan bei Entlassungen – das alles sind Themen, bei denen der Betriebsrat stellvertretend für die Belegschaft mit der Unternehmensleitung verhandelt. Stichwort Schichtplanung: Es gibt viele Betriebe, in denen die Kolleginnen und Kollegen erst am Donnerstag oder Freitag erfahren, wie sie in der nächsten Woche arbeiten sollen. Vereinbarkeit von Familie und Arbeit?! Die sieht anders aus.

Warum rennen euch die Leute eigentlich nicht ununterbrochen die Bude ein?

Marcel: Das wüssten wir auch gern! Aber im Ernst: Wie wichtig ein Betriebsrat ist, zeigen die genannten Beispiele. Aber es geht noch um viel mehr: Mit einem Betriebsrat zieht im Grunde genommen die Demokratie in einen Betrieb ein. Ansonsten sagt doch der Arbeitgeber ganz allein, wo es langgeht – im Rahmen der geltenden Gesetze versteht sich. Aber erst die Arbeitnehmervertretung sorgt dafür, dass Beschäftigte und Chef auf Augenhöhe miteinander reden und die Belegschaft nicht einfach nur Anweisungen entgegennimmt.

Stefan: Leider ist die Mitbestimmungskultur hier in der Region nicht so gewachsen wie wir uns das manchmal wünschen würden. Ob es einen Betriebsrat gibt oder nicht, hängt vielfach mit der Größe eines Betriebs zusammen.

Marcel: Durch die Wende und die Erfahrungen mit der Treuhand hat da auch jeder seine ganz eigene Geschichte zu erzählen, das zu ergründen, würde hier zu weit führen. Aber grundlegend ist mein Eindruck: Im Mittelstand wird die Gründung eines Betriebsrats noch immer als Angriff auf den Arbeitgeber verstanden. Dabei geht es ja vor allem darum, dass die Beschäftigten mitreden und ihre Rechte wahrnehmen dürfen. An so vielen anderen Stellen in unserer Gesellschaft fordern wir das völlig zu Recht ein. Nur am Arbeitsplatz machen wir uns klein, meckern lieber hinter dem Rücken des Chefs herum, statt gemeinsam etwas zu ändern. Warum eigentlich?

Was braucht es, um einen Betriebsrat zu gründen?

Stefan: Mut! Um selbst aktiv zu werden, muss man vor allem seine Stellvertreter-Mentalität ablegen, nach dem Motto „Irgendjemand macht das schon für mich“. Damit kommt man nicht weit, denn Mitbestimmung heißt selbst anpacken, sich einmischen, sich auch mal mit anderen anlegen und streiten.

Seit den 90er Jahren arbeiten zunehmend wenigre Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben. Sachsen ist dabei laut einer Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung bundesweit Schlusslicht. Was bedeutet das für eure Arbeit?

Marcel: Die Tarifflucht der Arbeitgeber, das Organisieren der Unternehmen in Verbänden ohne Tarifbindung ist ein Trend, den wir tatsächlich schon viele Jahre erleben. Eine Tarifpartnerschaft braucht aber zwei Partner am Verhandlungstisch, damit in der Fläche für alle dasselbe gilt. Im Ergebnis dieser Entwicklung haben wir immer mehr Haustarife, gehen also Haus für Haus, Betrieb für Betrieb an, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Das erfordert eine andere Beteiligung des Einzelnen. Alle im Betrieb sind gefragt, genauso wie wir als Hauptamtliche bei der IG Metall.

Stefan: Deshalb sind auch die anstehenden Betriebsratswahlen im Frühjahr 2022 so wichtig. Die BR-Wahlen bieten die Chance, das Thema Mitbestimmung bei den Beschäftigten wieder mehr ins Bewusstsein zu holen und vorhandene Netzwerke nochmal weiter auszubauen. Wir werden jetzt im Herbst eine Erschließungskampagne unter der Überschrift „Unser Leben gestalten wir“ in unserer Region starten. Dafür wollen Marcel und ich tarifgebundene und nicht tarifgebundene Kolleginnen und Kollegen stärker vernetzen. Unter anderem werden gestandene Betriebsrätinnen und Betriebsräte von ihrer Arbeit erzählen und zeigen, wie man mit gutem Beispiel vorangeht. Die Belegschaften sollen sich austauschen. In den Betrieben soll mit verschiedenen Aktionen deutlich werden: Diese BR-Wahl geht uns alle an! Wer mitbestimmen will, muss sich einbringen! Und wer noch nicht mitbestimmt, kann uns zwei anrufen, um genau das zu ändern!

Von: cdr

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